Ratgeber

Dieses Buch ist einfach zu dick!

Das kennen alle dicken Menschen: Sobald sie sich im öffentlichen Raum bewegen, droht von allen Seiten der Angriff, sei es verbal, z. B. durch freche Halbwüchsige, oder nonverbal, z. B. durch Blicke, entweder missbilligend, mitleidig oder dem »Aha!«-Grinsen beim unschlüssigen Stehenbleiben vor der Unmenge an Diätangeboten im Supermarkt. Auch die vermeintlich gut gemeinten Anfragen von Freunden oder Ärzten lassen einen den dicken Bauch so richtig spüren. »Meinst du nicht auch, du solltest es einmal mit der Trennkost versuchen? Meine Nachbarin hat damit gerade sechs Kilo abgenommen!« – »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so direkt darauf anspreche, aber für Ihre Gesundheit wäre eine Diät dringend anzuraten!«

Mindestens ebenso heftig sind die spitzen Nadeln, die dicke Menschen überall dort durchbohren, wo sie indirekt mit ihrem Anderssein konfrontiert werden: Werbeplakate und Fernsehen zeigen nur gertenschlanke Wesen, die Eis schleckend, Bauchnabel zeigend und – gänzlich ohne Atembeschwerden – Fahrrad fahrend oder leichtfüßig joggend ballastfrei ihr Leben genießen.

Wo sind die Dicken? In Deutschland sind das laut Gisela Enders immerhin 20 bis 30 Millionen Menschen! Ihrer nimmt sich die Autorin an, sie versorgt die Leser mit einem »dicken Paket« an Daten, die sonst nicht so öffentlich präsentiert werden. Sie will vor allen den dicken Frauen Mut machen, ihr Leben ohne ein allgegenwärtiges schlechtes Gewissen zu leben, ohne die 68. Diät, die – ebenso wie 67 andere – sinnlos ist und nichts als schlechte Laune macht. Sie propagiert Selbstakzeptanz und fordert die Achtung vor den Dicken auch vom Rest der Menschen ein. Denn Dicksein muss nicht heißen, dass die Betroffenen nur darauf zuleben, wann sie endlich, endlich dünn sein werden, um ein »normales« Leben führen zu können – und das, obwohl 95% der Diäten nicht funktionieren.

Also alles egal? Weiterfuttern und der dickenfeindlichen Umwelt den Rücken kehren? Sofa, Fernseher, Pizza-Service? Nein! Gisela Enders tritt vehement dafür ein, Verantwortung für den eigenen Körper zu übernehmen und auf sein Äußeres zu achten, aber nicht unter dem Schlankheitsdiktat, sondern um sich wohl zu fühlen und dies auch nach außen ausstrahlen zu können. Sie verweist auf schicke Mode, übrigens auch jenseits der Größe 60, fordert die Leserinnen auf, sich zu pflegen, sich gesund zu ernähren und sich fit zu halten. Nicht, um abzunehmen, sondern für das eigene Wohlbefinden. Schluss mit Hungerkuren, zucker- oder fettarmer Ernährung oder gar letztlich die Gesundheit schädigenden Mitteln aus der Apotheke! Wer Frieden mit seinen Rundungen – die Autorin verzeihe mir diesen beschönigenden Ausdruck! – geschlossen hat, wird auch von den Mitmenschen in Ruhe gelassen.

Das Buch quillt über vor Ideen, wie dicken Menschen das Leben leichter gemacht werden kann: von gescheiten, das Gesicht wahrenden Antworten auf dumme Sprüche über Kontakte zu anderen Dicken, um z. B. eine XXL-Kleiderbörse zu veranstalten oder um sich gemeinsam ins Schwimmbad, ins Fitnessstudio oder auch die Eisdiele zu trauen, bis hin zu Anregungen zum Flirten und Tipps, wie ein dickes Paar uneingeschränkt Sex miteinander haben kann.

Im Kern ist also richtig, ja wertvoll, was die Autorin schreibt, und bestimmt macht sie damit vielen dicken Frauen Mut, sich selbst zu behaupten in unserer von Schlankheitswahn und Diätdiktat besetzten Welt. Aber: Dieses Buch ist viel zu dick! Die Kernaussage verschwindet hinter einer üppigen Schicht an Wiederholungen und Phrasen. Störend ist auch, dass stellenweise riesige Lücken im Text klaffen und willkürlich gesetzte Aufzählungspunkte anstelle von Gedankenstrichen den Lesefluss ebenso hindern wie magere Interpunktion. Und der Gag, in das Wort »dick« zwei Fragezeichen einzufügen (dic??k), ist nach der zweiten Wiederholung wirklich überflüssig, nach der 10. Wiederholung – zumal es sich öfters auch in andere mit ck geschriebene Wörter einschleicht – schlicht lästig. Gisela Enders ist sicher kompetent, schließlich war sie die Geschäftsführerin von Dicke e. V., der Dicken-Vereinigung Deutschlands. Sie vertritt ihr Anliegen mit Know-how, Elan und Chuzpe, doch ihrem Buch hätte eine Abspeckkur gut getan. Hat die Autorin am Ende ihre teilweise schrill vorgetragene Philosophie auch auf andere Bereiche übertragen und verweigert jegliches Sich-selbst-Zurücknehmen? Offensichtlich wurden die geforderten Selbstakzeptanzziele hier übererfüllt.

Dass dicke Frauen ihr Dicksein lieber als Stärke interpretiert wissen möchten, sollte nicht heißen, dass sie der äußerlichen Schicht eine innere Härte hinzufügen, die sie gänzlich immun macht gegen konstruktive Kritik. So gibt es durchaus Gründe, das so genannte »Wohlfühlgewicht« mit dem Body-Mass-Index (BMI) abzugleichen, zumal wenn individuelle Schwankungen berücksichtigt werden. Dass Knieschmerzen oder Bluthochdruck nicht zwingend ursächlich mit hohem Gewicht zu tun haben müssen, ist kein Grund, die Dicken weltumgreifend für grundsätzlich gesund zu erklären, ja ständig zu betonen, dass sie im Schnitt gar eine längere Lebenszeit haben als dünne Menschen. Und bei aller Abwehr gegen drangsalierende und sinnlose Diäten haben die neuen Erkenntnisse darüber, wie man langfristig seinen Körper dazu bringt abzunehmen, ohne sich dabei quälen zu müssen, keinen Einzug in das sonst prallvolle Wissen der Autorin gefunden. Denn auch das muss akzeptiert werden: dass sich manch dicker Mensch jenseits des Gesellschaftsdiktats eben nicht wohl fühlt mit einem Zuviel an Gewicht und auf der Suche nach einer echten Alternative zu Atkins und Co. ist.

Bei einer der Autorin zu wünschenden Neuauflage sei dem Buch eine von kompetenter Hand geführte, nur das »überflüssige Fett«, nicht aber das »stützende Knochen-« oder gar das »Muskelgewebe« abbauende und damit langfristig erfolgreiche Diät anempfohlen!

-dgk
04.09.2002

 
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Das Buch:

Gisela Enders: Dick das Leben leben. Für Frauen, die Frieden mit ihrem Körper schließen wollen

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Berlin: Libri. Books on Demand 2001
216 S., € 17,89
ISBN: 3-8311-0893-5

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